Stuttgarter Zeitung Nr 184 - Montag, 12 August 1974, Seite 17 Und fröhlich brannte die rote Laterne – Von Hans Blickendörfer. Die Sonne kämpfte mit unruhigen grauen Wolken, und hinter des Cannstatter Kurve bogen sich die Pappeln so sehr im regenträchtigen Wind, daß die schwergewichtigen Hammerwerfer den Stuttgarter Dreiländerkampf ohne ihren obligatorischen Gitterkäftig hätten beginnen können. Denn ihre stählernen Kugeln, die aus unerfindliche, Gründen Hämmer gennant werden, hätten, im Falle von Querschlägern, kaum Unheil auf den leeren Rängen anrichten können. Aber die Stuttgarter ließen sich ihren Ruf als dankbares und fachmännisches Leichtathletik-Publikum nicht nehmen. Der mittägliche Regenguß hielt sie etwas zurück, aber er hielt sie nicht ab, und lange bevor Karl Honz und Bernd Herrman über 400 Meter zu ihrer schwäbischen Auseinandersetzung auf höchster europäischer Ebene kamen, waren an die 20 000 im Neckarstadion versammelt. Angesichts der Urlaubszeit eine vorzügliche Kulisse. Sie beweist, daß der echte Leichtathletik-Liebhaber das Erlebnis im Stadion der Fernseh-Direkübertragung allemal vorzieht, wiewohl der Mann am Bildschirm allerhand technische Privilegien genießt. Die dieweil der Mann im Stadion ein halbes Dutzend Augen bräuchte, um nichts zu verpassen. Denn bei solchen Großveranstaltungen der Leichtathletik pflegt in allen Ecken des Stadions immer etwas zu passieren, und nie werde ich deshalb meine Bewunderung vor jenen echten Experten auf den Presseplätzen verlieren, die mit der linken Hand eine Zwischenzeit stoppen, und sie mit der rechten niederschreiben, während sie mit dem linken Auge den Hochsprung und mit dem rechten das Diskuswerfen verfolgen. So etwas kann man, oder man kann's nicht. Ich kann's nicht. Nicht einmal Prognosen kann ich stellen. Da hatte ich gutes Geld in eine dicke Havanna investiert, weil mir der französische Zigarenraucher Jean-François Bonhème glaubwürdig versichert hatte, daß er eine Weite von guten acht Metern in den Beinen spüre. Die dicke Havanna, die ich zur Feier seines Sieges bereitgestellt hatte, trug mir schon vor dem Weitsprung die Rüge eines jener Experten ein, die ich so bewundere. "Bonhème", sagt er mir mit jener kaiserlichen Überlegenheit, die man sonst nur bei Franz Beckenbauer findet, "gewinnt nicht. Er hat keine Chance gegen Baumgartner". Im ersten Teil seiner Behauptung hatte der Experte recht. Bonhème kam nicht über 7,64 m hinaus, aber er hatte immerhin gültige Versuche. Baumgartner hingegen fabrizierte außer Fehlversuchen gar nichts, so daß dem wackeren Bonhème, wenn man's genau nimmt, mindestens eine Fehlfarbenzigarre zugestanden wäre. Außerdem kann niemand bestreiten, daß jeder von den 20 000, die zuschauten, an diesem Tag mehr für die deutsche Leichtathletik getan hat als Baumgartner. Denn er bezahlte, während bein Baumgartner außer Spesen nichts gewesen ist. Es ist tröstlich, daß sich auch Experten irren. Oder die Anzeigentafel. Der Russin Melnik beispielweise welche die beste Diskuswerferin der Welt ist, klaute sie das "n" und nannte sie Melik. Vielleicht deshalb, weil sie im Kugelstoßen antrat, wo sie nicht ganz so viel auf der Pfanne hat ? Dem französischen Hürdler Jean-Claude Nallet stahl siie ein "l", aber dafür verschenkte sie eine Menge von überflüssigen Buchstaben an die russischen Wettkämpfer, was glücklicherweise außer unserem Mitarbeiter Alexander Karapetian, dessen Muttersprache Russisch ist, niemand störte. Denn di russischen Athleten sind auf diesem Gebiet sehr nachsichtig. Nur wenn man ihre Placierungen vertauscht, können sie unangenehm werden. Da dies nicht geschah, bewahrten sie uns Freundschaft. Die eindrucksvollste Freundlichkeit dieses Dreiländerkampfes freilich ist von keinem Sieger gekommen, sondern von dem, der die rote Laterne am längsten getragen hat. Nämlich von der ersten bis zur letzten Runde jener, welche die Spez- und Idealisten des 20-Kilometer-Bahngehens sind. Da ich den Auftrag, einen französischen Einzelsieger herauszugreifen, nicht erfüllen konnte, habe ich etwas getan, was in unserer modernen Leistungsgesellschaft eigentlich Antijournalismus ist. Beißen den Letzten etwa nicht die Hunde und darf man es wagen, neben strahlenden Siegern auch von einem strahlenden Letzten zu reden ? Ich meine, daß man es nicht nur darf, sondern sogar muß. Niemand wird den Namen dieses 22 jährigen Jurastudenten aus Lyon in einer gedruckten Ergebnisliste finden. Er heißt Dominique Guebey und war schon nach dem ersten der 20 kilometer, welche die Geher zu absolvieren hatten, so hoffnungslos abgehängt, daß es eigentlich sinnlos wurde, sich um ihn zu kümmern. Zumal ein interessantes Experiment Weltpremiere feierte. Man ließ die Geher zusammen mit den 10 000-m-Läufern starten und gab ihnen den äußeren Rand der Piste.Und siehe da, sie, die Stiefkinder der Leichtathletik, die von spitzen Zungen wegen ihres Watschelganges sogar zu deren Epileptikern gemacht worden sind, bekamen ein ganz neues Marschgefühl. Für den ersten Blick sind die ja auch wirklich keine Augenweide. Wer hat schon Spaß an Leuten, die, mit Kopf und Hüften wackelnd, den Eindruck machten, als ob sie barfuß durch einen Ameisenhaufen gingen ? Aber der Doppeleffekt von Laufen und Gehen verfehlte seine Wirkung nicht. Aus dem anfänglichen Spaß wuchs Sympathie für die Geher, deren gedrosselte und doch so unheimlich konzntrierte Energie einem großen Publikum nie deutlicher gemacht worden ist. Und wer die Augen aufmachte, lernte den einsamsten Mann im Stadion kennen. Diesen Dominique Guebey nämlich, der bei jedem Schritt eine Handbreite gegen die Russen verlor, die an der Spitze wie Stachanow-Arbeiter schufteten, denen man die komplette Zerstörung des Tartanbelags zum Soll gemacht hat. Wie die Besessenen stampften und wühlten sie, ohne daß sich der wackere Guebey aus seinem inferioren, aber nie schwankenden Rhythmus bringen ließ. Wenn man das Fernglas zur Hand nahm, sah man, wie er unter seiner randlosen Brille, die ihm das Gesicht eines Klassenprimus gab, mit flinken und staunenden Kinderaugen immer wieder hinüber zu den 10 000-Meter Läufern linste. Manchmal glaubte man sogar, er wolle sie anfeuern, obwohl er so viel mit sich selbst zu tun hatte. Außer den Offiziellen, die zum Aufpassen da sind, hat niemand gezählt, wie oft Dominique Guebey überrundet wurde. Aber nie, mit Ausnahme von der Tour de France, habe ich einen erlebt, der die rote Laterne mit so viel Zufriedenheit über sein Durchhalten ins Ziel trug. "Es wer großartig", sagt er. "Schade nur, daß ich 12 Kilometer lang Schmerzen im rechten Bein hatte. Jetzt sind sie wie weggeblasen, und ich würde am liebsten weitermachen." Neunzehneinhalb von zwanzig Kilometern war der Mann hinterher marschiert. Auf den Fußball übertragen ist das so, wie wenn ein Verein nach dem ersten Spieltag als Absteiger feststeht. Aber man kann es eben nich übertragen. Denn Dominique Guebey war glücklich. Dominique Guebey : Einsam aber zufrieden. Photo Sven Simon